Sonntag, 4. Dezember 2016

Die Geldtauschertage



Die Geldtauschertage

Sunday Tales
Part XII


‚Das Schönste an der Weihnachtszeit sind die strahlenden Kinderaugen.’

Josef hatte selten so gelacht. Wen zur Hölle interessierten in dieser geschäftigen Zeit schon strahlende Kinderaugen? Da rannten sie. Hin und her und wieder hin. Behangen mit Tüten schwitzten sie bei Minusgraden. Aufgeregtes Gemurmel. Gestresste Gesichter. Hochrote Ohren an den neusten Smartphones. Ja, die Vorweihnachtszeit war eine durchaus besinnliche Zeit.

Worum ging es hier eigentlich? Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen? Dann hatten die Leute eine seltsame Art dies auszudrücken. Es gab nur eine Sorge: das Versagen. War das eigene Geschenk groß und teuer genug? Man wollte sich schließlich an den Geldtauschertagen keine Blöße geben.

Josef fragte sich was dieser Zirkus sollte? Warum behielt nicht jeder sein eigenes Geld und kaufte sich selbst was ihn scheinbar glücklich machte? Das wäre die einfachste Lösung und im Grunde wäre das Ergebnis dasselbe. Da schenken sie ihrer Oma einen Gutschein für eine Gesichtsmaske und Oma gibt ihnen in einem schönen weihnachtlichen Umschlag das Geld dafür. Seltsam diese Menschen.

Stress und Hektik als Tribut an einen materiellen Götzen. Warum setzte sich niemand mehr hin und bastelte etwas? Ist die Zeit, die wir anderen schenken, nicht viel mehr wert, als dieser ganze Konsum? Wann haben wir angefangen Menschen zu benutzen und Dinge zu lieben? Und wann haben wir vor wieder damit aufzuhören?

 Josef hatte damit nicht aufgehört. Das musste er auch nicht, denn er hatte nie damit angefangen. Er hat drei Kinder und sieben Enkelkinder. Jedes Jahr begann der begabte Tischler schon im Sommer mit der Anfertigung der Weihnachtsgeschenke. Ganz individuell für jedes Familienmitglied. Mit tiefer Liebe und völliger Hingabe entstanden hölzerne Kunstwerke, die auf ihre Art einzigartig waren. Mit den Jahren mussten die Möbelstücke jedoch immer imposanter werden und die Spielzeuge beweglicher. Immer mehr. Immer ausgefallener.

Bis sein ältester Sohn aussprach, was alle dachten: „Papa, du musst dir die ganze Mühe nicht mehr machen. Schenk uns doch einfach Geld.“

Geld. Das kälteste Geschenk das die Menschheit erschaffen hatte. Nichts schaffte eine größere Distanz. Man muss niemanden kennen, um ihm Geld zu schenken. Man muss sich keine Gedanken machen, um jemandem Geld zu schenken. Man muss sich für niemanden interessieren, um ihm Geld zu schenken.

Josef kannte seine Kinder. Er kannte seine Enkel. Er wusste genau, wer welches Tier mochte. Wer welche Farbe liebte. Seine Familie dagegen wusste rein gar nichts über ihn. Das störte ihn jedoch nicht, denn er liebte bedingungslos. In ihren Augen war er wohl nur ein nutzloser alter Mann aus einem Groschenroman, der Kindern am Kamin eine Geschichte vorlas. Alte Werte. Ja, wohl ganz nett.

Da saß er nun in dem kleinen Café. Kaum jemand verirrte sich hier her. Die Menschen waren zu beschäftigt. Außerdem trank man seinen Kaffee bei Starbucks. Wer trank schon noch einfachen Filterkaffee aus der Kanne? Undenkbar. Was war nur passiert? Er drehte nachdenklich die kleine hölzerne Lokomotive in seiner Hand. Ein filigranes Meisterwerk in leuchtendem Rot. Der kleine Michel liebte diese Farbe und er liebte Lokomotiven. Wie Josef jetzt aber erfahren hatte nur die aus der Fernsehwerbung. Die gebe es auch zu kaufen. Aus Plastik. Plastik. Ja, Plastik. Der Rohstoff der modernen Welt.

Josef bedankte sich, wie immer, für den Kaffee und trat hinaus auf die Straße. Keine zehn Sekunden später hatte man den alten Mann schon zweimal angerempelt. Die Besinnlichkeit der Vorweihnachtszeit eben. Dafür musste er Verständnis haben. Auf dem Weg zur Bank war jeder Tritt tonnenschwer. Wie rechnete man Liebe in Geld um? Was wurde erwartet? Ein dicker Kloß hatte sich in seinem Hals gebildet. Er hatte verloren. Dieses Jahr tauschte er Geld gegen ein wenig Geselligkeit mit seiner Familie. Nicht zusammen. Nicht an einem Tisch. Aber über die Tage verteilt würde er wohl fast jeden von ihnen sehen. Vielleicht.

‚Wie tief sind wir eigentlich runtergekommen’, fragte er sich und hob andächtig den Blick zum glänzenden Bankgebäude.
Noch einmal drehte er die Lokomotive in seiner Hand, die er wie einen Schatz behütet hatte, und warf sie in den grauen Mülleimer. Mit einem tiefen Seufzer setzte er den ersten Fuß auf die Treppe der neuen Gottheit, die seine geliebte Familie so verehrte. Oben angekommen, drehte er sich noch einmal um. Sein Blick folgte einem jungen Mädchen. Es ging zielsicher auf den Mülleimer zu und fischte die Lokomotive heraus. Ihr wacher Blick traf den von Josef.
„Wollen Sie das nicht mehr?“, fragte die zierliche Gestalt mit den vom kalten Wind zerzausten Haaren.
Fasziniert musterte sie die kleine Lokomotive und ihre Augen begannen hoffnungsvoll zu strahlen.
Josef kam zurück und sagte: „Nein, ich habe keine Verwendung mehr dafür. Meine Kinder wollen lieber Geld zu Weihnachten.“
„Verstehe. Dürfte ich sie haben?“
Verblüfft sah Josef sie an und fragte: „Bist du nicht zu alt für sowas?“
„Sie ist für meinen kleinen Bruder.“
„Aber dein kleiner Bruder spielt doch sicherlich lieber mit modernen Sachen aus dem Kaufhaus, oder?“
Traurig senkte das Mädchen den Kopf und antwortete: „Mein Bruder ist schwer krank. Dieses Jahr könnte sein letztes Weihnachten sein. Wir werden Heilig Abend auch hier im Krankenhaus verbringen und schauen alte Filme. Er liebt ‚Meister Eder und sein Pumuckl’ und die tollen Sachen, die da gebaut werden. Er ist fasziniert von Holzspielzeug. Daher bin ich mir sicher, dass er diese Lokomotive lieben wird. Ich hab Sie in dem kleinen Café durch das Fenster gesehen. Sie hielten diese Lokomotive in der Hand. Ich bin ihnen nachgelaufen, um zu fragen, wo Sie sie herhaben. Jetzt habe ich fast gehofft, dass Sie sie in den Müll geworfen haben. Ich musste einfach nachsehen. Es ist das Geschenk für meinen kleinen Bruder.“
„Sowas könnt ihr auch auf dem Weihnachtsmarkt kaufen“, bemerkte Josef.
„Nein, sowas nicht. Das fühle ich. Haben Sie das gemacht?“
Josef durchfuhr ein Schauer und er musste schlucken.
Dann nickte er und sagte: „Du kannst sie gerne haben. Frohe Weihnachten. Ich muss jetzt los. Alles Gute für Euch.“
„Danke.“
Strahlende Kinderaugen schoben die kleine Lokomotive behutsam in eine Umhängetasche.
*
 Bewaffnet mit einer Jackeninnentasche voller Briefumschläge, die zu nah an seinem Herzen waren, stand ein Mann schweigend auf der Kinderstation. Neben ihm ruhte ein kleines Ziehwägelchen mit einem Karton. Die Schwester schaute ihn fragend an.
Lächelnd sagte er: „Für den Jungen der den Pumuckl so mag.“
Kommentarlos drehte er sich um und verschwand im Fahrstuhl. Ein warmes Gefühl breitete sich in ihm aus als er in die eisige Dezemberkälte trat.
„Warten Sie!“, hörte er eine bekannte Stimme.
Da stürzte das Mädchen mit der Lokomotive schon hinter ihm her. Mit tränennassen Augen fiel sie ihm um den Hals. Meister Eders Werkstatt mit den passenden Figuren hatte seine Wirkung nicht verfehlt. Josef hatte all seine Liebe in dieses hölzerne Kunstwerk gesteckt. Er hatte kaum noch geschlafen, um es rechtzeitig vollenden zu können. Es war sein Meisterwerk. Zweifelsohne.
Melanie, wie das Mädchen hieß, ließ ihn nicht gehen, sondern zog ihn mit ins Krankenhaus. Strahlende Kinderaugen begrüßten ihn, als er das Zimmer betrat. Ein kahlköpfiger kleiner Junge streckte ihm die Arme entgegen und Josef wischte sich eine Träne ab.
„Er ist so glücklich. Wie können wir das je wiedergutmachen?“, fragte die Mutter des Jungen. „Sowas muss doch ein Vermögen kosten.“
„Es ist unbezahlbar“, gab Josef zu. „Aber genauso unbezahlbar ist das Strahlen Ihrer Kinder. Ich denke, wir sind quitt.“


*** Ich wünsche Euch eine besinnliche Vorweihnachtszeit ***

Lilly Rabenau

www.lilly-rabenau.de