Sonntag, 30. Oktober 2016

Das Buch

Sunday Tales
Part VII
Das Buch


Wieder ein hektischer Morgen. Kinder wecken. Brote schmieren. Kaffee kochen. Nina hetzte von einer Ecke des großen Hauses in eine andere. Keine Sekunde zum Luftholen. Ein Mann, drei Kinder und ein Hund wollten versorgt werden und niemand wollte seine Bedürfnisse auch nur einen Moment zurückstellen. Wie ein Roboter erledigte Nina alle ihre Aufgaben. Der eine Gedanke hielt sie in Bewegung. Nach der Hausarbeit würde sie endlich das Buch lesen, das ihre Mutter ihr vor neun Monaten geschenkt hatte. Sie wusste nicht einmal, worum es in diesem Buch ging. Es lag auf dem Bücherregal und Nina staubte es jeden Tag sorgfältig ab, aber geöffnet hatte sie es nie. Heute war der Tag. Heute würde sie endlich Zeit finden.

Zack... schon lag das Marmeladenbrot auf dem Küchenboden. Aufheben. Ein neues Brot schmieren. Boden wischen. Die Zeit drängt. Schnell die Jacken für die Kinder holen und die Schuhe anziehen. Die Pausenbrote müssen in die Rucksäcke und Lisas Sporttasche fehlt noch. Ein beiläufiger Abschiedskuss ihres Ehemannes und schon fiel die Tür ins Schloss. Alle sind weg. Stille.

Nina atmete durch. So hatte sie sich ihr Leben nicht vorgestellt, aber sie musste funktionieren. Sie war der Motor dieser Familie. Das war ihr bewusst. Hund Skippy stupste sie mit seiner feuchten Nase an. Natürlich... er musste raus. Schnell kämmte Nina ihre Haare, zog die Schuhe an und lief mit Skippy um den Block. Worum es wohl in dem Buch ging? Immer wenn sie es lesen wollte, kam irgendetwas dazwischen. Ihre Mutter hatte ihr noch nie ein Buch geschenkt. Überhaupt hatte sie in den letzten Monaten kaum etwas von ihrer Mutter gehört. Sie wohnte ca. 150 Kilometer entfernt, aber Nina hatte keine Zeit diese Strecke zurückzulegen. Die Kinder, der Haushalt, ihr Mann. So war es bereits vier Monate her, dass sie ihre Mutter zum letzten Mal gesehen hatte. Auch Telefonate waren selten geworden. Meistens ging Nina nicht ran. Sie war zu beschäftigt und wollte ihren Abend nicht noch ihrer Mutter widmen. Ausgebrannt und leer fühlte sie sich nach jedem Tag. Nur noch der Fernseher schenkte ihr etwas Ruhe.

Wieder zu Hause räumte sie schnell die Küche auf, machte die Betten und erledigte die Einkäufe. Gegen zwölf Uhr war alles erledigt und sie wollte zum Buch greifen, als das Telefon klingelte. Es war ihre Tochter Melanie. Die letzten beiden Stunden würden ausfallen und sie müsse abgeholt werden. Also Schlüssel schnappen und auf zur Schule. Schnell wieder nach Hause. Kaum hatte Nina die Tür hinter sich geschlossen fiel Melanie ein, dass Friederike aus ihrer Klasse wohl ihr Mathebuch eingesteckt hatte. Wieder ins Auto. Nina hetzte zu Friederike und holte das vergessene Stück ab. Sie schielte auf die Uhr. Fast 13 Uhr. Die anderen beiden Kids kämen gleich aus der Schule. Das Mittagessen musste fertig werden. Sie schnippelte das Gemüse, damit ihre Kinder ein gesundes Essen bekamen. Noch schnell den Tisch decken und die Getränke aus dem Keller holen. Fertig.

Minuten später sprang die Tür auf und die beiden stürzten ins Haus, warfen ihre Sachen in die Ecke und
setzten sich an den Tisch. Nach dem Mittagessen räumte Nina erneut die Küche auf und die Sachen der Kinder weg. Gleich geschafft. Dann kann sie endlich mit dem Buch anfangen. Doch sie erblickte das traurige Gesicht von Melanie, die mit ihren Hausaufgaben nicht weiter kam. Ohne zu zögern, setzte sie sich mit ihrer Tochter zusammen und half ihr dabei. Gemeinsam meisterten sie auch Algebra und als Nina endlich nach dem Buch griff, durchbrach die Stimme von Timo die Stille. Natürlich... er hatte Fußballtraining. Wieder ins Auto. Sie mussten noch Frank abholen. Dann zur Sporthalle.

Mit festem Willen das Buch zu lesen, betrat Nina ihr Haus und fand ihre Freundin Marianne auf der Couch. Sie hatte neuen Klatsch und Tratsch gehört, den sie unbedingt loswerden wollte. Nina kochte schnell Kaffee und stellte Kekse auf den Tisch. Gelangweilt von Mariannes Gespräch streiften ihre Blicke immer wieder das Buch auf dem Regal. Erst als sie das Abendessen für ihren Mann richten musste, verabschiedete sich Marianne. Nina legte zu Hause alles zurecht und holte dann ihren Sohn ab, der aufgeregt von seinem Training berichtete.

Pünktlich gegen 17 Uhr kam Ninas Mann nach Hause und sie servierte ihm das Essen. Schmaltalk über die Arbeit und wieder die Küche aufräumen. Ihr Mann brauchte morgen dringend sein gutes Hemd für ein Meeting. Also schnell in den Keller und die Waschmaschine anstellen. Die Kinder waren in den Zimmern verschwunden und so drehte Nina eine weitere Runde mit Familienhund Skippy.
Die Waschmaschine piepste bereits, als sie zurückkam. Schnell das Hemd auf die Heizung gelegt. Während es trocknete, könnte sie ja anfangen das Buch zu lesen. Ihre Mutter würde sich bestimmt freuen. Jedes Mal fragte sie danach. Doch Lisa kam ins Wohnzimmer und schaute traurig. 

Der Schmetterlingsknopf ihrer Lieblingshose hatte sich gelöst. Nadel und Faden hatte Nina schnell zur Hand und reparierte gekonnt die Hose und Lisa strahlte wieder. Die Sonne war bereits hinter dem Horizont versunken, als Nina das Hemd bügelte.

Jetzt war es soweit... sie griff nach dem Buch und wollte es aufschlagen, als Lisa wieder im Zimmer stand. Sie konnte nicht schlafen und Nina setzte sich zu ihr und las ihr aus ihrem Lieblingsbuch vor. Irgendwann war sie tatsächlich eingeschlafen und Nina setzte sich mit dem Buch ihrer Mutter ins Wohnzimmer. Bevor sie jedoch die erste Zeile lesen konnte, war sie selbst eingeschlafen. Ihr Mann weckte sie und brachte sie ins Bad. Danach fiel sie ins Bett.

Die nächsten Tage verliefen nicht anders. Das schlechte Gewissen plagte sie. Jeder Versuch ihre Mutter zu erreichen blieb erfolglos. An einem Sonntag fasste Nina sich ein Herz und packte die Kinder ins Auto. Sie wollte ihre Mutter besuchen. Sie hatte einen Kuchen gebacken. Ihr Mann war mit Freunden zu einem Fußballspiel gefahren. Nina fuhr die 150 Kilometer allein und hielt vor dem Haus ihrer Mutter. Niemand öffnete die Tür. Eine Nachbarin kam zu ihr hinüber und erklärte ihr, dass ihre Mutter bereits seit langer Zeit regelmäßig ins Krankenhaus musste.

Fassungslos über diese Nachricht fuhr Nina sofort ins Hospital und fragte nach ihrer Mutter. Der Arzt kam ihr entgegen und seine Augen ließen sie frösteln. Ninas Mutter war vor wenigen Stunden verstorben, nachdem sie die letzten Monate mit einer schweren Krankheit gekämpft hatte. Sie wollte ihrer beschäftigten Tochter nicht zur Last fallen und am Ende ging diese nicht einmal mehr ans Telefon. Ihre Mutter starb allein.

Tränen liefen leise über Ninas Wange. Das Buch. Das Buch. Ninas Mutter hatte immer nur nach diesem Buch gefragt. Nie hatte sie gesagt, dass sie krank wäre. Wie konnte das passieren? Wie konnte sie ihre Mutter einfach vergessen? Wie konnte sie nicht bemerken, wie schlecht es ihr wirklich ging?
Geschockt von der Nachricht fuhr Nina mit den Kindern wie in Trance nach Hause und nahm das Buch. Sie schloss sich in ihr Schlafzimmer ein und begann zu lesen ...

Für meine über alles geliebte Tochter Nina, die meinem Leben erst einen Sinn gegeben hat.

Die Widmung berührte Nina tief und erneut traten ihr Tränen in die Augen. Sie begann zu lesen und hörte nicht auf. Stunde um Stunde um Stunde. Bis zum Ende.

Ihre Mutter hatte ihre Leidensgeschichte aufgeschrieben. Alle ihre Ängste und Zweifel. Aber auch ihre Hoffnungen, dass ihre Tochter und ihre Enkel diesen schweren Weg mit ihr zusammengehen würden. Sie beschrieb ihre Vorstellungen von einer glücklichen Familie und von dem Wunsch friedlich einzuschlafen, nachdem sie ihren Enkeln eine Geschichte vorgelesen hätte und ihrer Tochter gesagt hätte, wie stolz sie auf sie war. Jede schöne Erinnerung hatte sie, wie in einem Tagebuch, festgehalten, als hätte die Erinnerung sie am Leben erhalten. Gegen Ende des Buches verblassten ihre Hoffnungen und sie beschrieb wie ihr nach und nach die Kraft versagte, bis sie schließlich aufhörte zu schreiben und allen Lesern und deren Familie ein glückliches erfülltes Leben wünschte im Kreise der Menschen, die sie lieben. Sie würde nun sterben, wie sie gelebt habe... allein.

Bei Sonnenaufgang schlief Nina ein und träumte von ihrer Mutter, die ihr zu lächelte. In der Hand hielt sie immer noch das Buch mit dem Titel ...

... Der Tod zieht an mir, aber die Liebe hält mich fest

**Einen wunderschönen Sonntag**
Lilly Rabenau
www .lilly-rabenau.de

Ein Leckerli für Juliane


Sunday Tales 
Part I

Ein Leckerli für Juliane


Wie gewöhnlich schaffte Juliane es nicht einmal bis in ihre Wohnung, bevor sie sich die Hälfte ihrer Klamotten schon vom hitzigen Leib gerissen hatte. Ihr neuer Macker Marc klebte an ihren Lippen, als ginge es um sein Leben. Krachend fiel das Foto auf der Kommode zu Boden und die Handtasche wurde in die Ecke katapultiert. Schuhe. Bluse. Alles flog durch die Gegend.

Kessy machte sich erst gar nicht die Mühe ihr Frauchen zu begrüßen. Das wäre eh vergebene Liebesmüh’ gewesen. Was waren das immer für komische Kerle, die Juliane da anschleppte? Die zierliche Mischlingshündin lauschte dem wilden Treiben. Fast gelangweilt starrte sie auf ihren Wassernapf, der nur noch einen kläglichen Rest beinhaltete. Früher war alles anders. Früher wohnte Jens noch hier und Juliane war glücklich. War sie? Kessy war sich nicht mehr sicher. In den letzten paar Wochen hatten sich Juliane und Jens nur angeschrien und keiner der beiden hatte mehr Zeit für die junge Hündin.

Dann war Jens plötzlich nicht mehr durch diese Tür gekommen, aber allerhand seltsame Typen, die Kessy nie etwas mitbrachten. Anders als Jens. Aber meistens brachten sie Juliane etwas mit. Anders als Jens. Blumen, Wein oder Schokolade. Dann brachten sie sie dazu, seltsame Geräusche zu machen. Kessy wollte ihr geliebtes Frauchen am Anfang immer beschützen, aber man warf nur mit Kissen nach ihr und irgendwann war es ihr dann egal.

Juliane schien sich gerne nackt mit diesen Typen im Bett, auf dem Boden und auf dem Küchentisch zu winden. Egal. War es das? Nein, irgendwie nicht. Kessy stand auf und trottete Richtung Wohnzimmer. Ja, es ging wieder heiß her. Das dritte Mal schon diese Woche. Das dritte Mal das Kessy vergebens auf eine Begrüßung und ein Leckerli wartete. Es musste sich etwas ändern. Kampflos wollte sie ihr Frauchen nicht an diese hirn- und herzlosen Typen aufgeben. Aber was sollte sie tun? Ein kleiner Hund wie sie? Was taten diese Kerle denn? Sie brachten Geschenke mit. Meistens. Zumindest am Anfang, aber da sie eh immer schnell ausgetauscht wurden, brachten die Neuen, auch wieder neue Geschenke mit. Geschenke? Ja, Menschen mochten Geschenke. Das waren die Leckerlis für Frauchen.

Kessy würde Juliane eine riesige Freude machen. Sie drehte sich wieder um und lief in den Flur. Traurig schnüffelte sie an dem Bilderrahmen auf dem Boden. Das Glas war gesplittert und ihr Lieblingsbild sah jetzt nicht mehr schön aus. Juliane hatte sie im Arm gehalten und Jens hatte dieses Foto gemacht. Ein Bild aus glücklicheren Zeiten.

Was war das? Die Tür war noch einen Spalt offen. Die beiden hatten es wohl sehr eilig ihr seltsames Spiel zu spielen. Das war jetzt Kessys Chance. Sollte sie es wagen? Wäre sie rechtzeitig zurück? Wo wollte sie eigentlich hin? Ach, egal. Sie musste das Herz ihres Frauchens zurück gewinnen. Sie brauchte ein verdammtes Geschenk. Ein besonderes Leckerli.

Mit klopfendem Herzen voller ungeahntem Mut schlüpfte die kleine Hündin durch den Türspalt und wurde von der Dunkelheit des Hausflures verschluckt. Die fiese Treppe stellte das erste Hindernis dar. Sie dachte an Juliane. Ja, ihre Liebe war es wert, dass sie dieses Monstrum bezwang. Kessy setzte die erste Pfote auf die Stufe und zog ihr Hinterteil nach. Geschafft. Weiter. Immer weiter. Oh je, wie viele Stufen hatte diese scheußliche Treppe denn? Sonst wurde sie von Frauchen getragen.

Kessy schleifte beinahe mit ihrer langen Zunge auf dem kalten Steinboden, als sie endlich das Erdgeschoss erreicht hatte. Die Eingangstür. Verhöhnend schien das massive Ding die kleine Hündin anzugrinsen. Sie würde diese verdammte Tür jetzt so lange anstarren, bis sie sich von selbst öffnen würde. Ihre Augen waren zu kleinen Schlitzen verengt. Das musste doch einschüchternd wirken, oder? Hilfsweise knurrte sie noch und fletschte die Zähne. Nichts. Bellen? Nein, lieber nicht. Sie würde nur Juliane auf sich aufmerksam machen. Noch böser gucken und knurren. Ja, das musste einfach funktionieren.

Gerade als sie aufgeben und wieder nach oben krabbeln wollte, geschah das Wunder. Die Tür gab ihren Widerstand auf. Kessy achtete nicht darauf, wer die Tür geöffnet hatte, sondern sprintete wie von einer Tarantel gestochen aus dem Wohnhaus.

Da war sie: die große weite Welt voller Geschenke. Sie rannte weiter. Über die Straße in Richtung Park. In der Dunkelheit kam ihr alles seltsam fremd vor. Hechelnd blieb sie stehen. So weit. So gut. Und jetzt? Als sie sich umschaute, schien ihr aufgeflammter Mut sich verflüchtigt zu haben. Ihre Beine fühlten sich wie Wackelpudding an. Der Schrei einer Eule ließ sie zusammenzucken. Sie musste weiter. Im Park gab es keine Geschenke, oder? Eher nicht. Frauchen mochte Blumen, Pralinen und Schmuck. Ein Gänseblümchen aus dem Park war wohl keine gute Lösung.

Sie lief und lief, bis ihre Pfoten brannten. Häuser, Autos, Mülltonnen. Grausig fauchende Katzen kreuzten ihren Weg, aber davon ließ sie sich nicht beirren. Müll, Flaschen, Kaugummi, Armband. Moment. Armband? Kessy drehte sich um und lief zu dem Ding hin, das im Licht einer Straßenlaterne funkelte. Unter einem seltsamen Automat, der uralt aussah, lag tatsächlich ein Armband und es glitzerte. Juliane mochte alles, was glitzerte. Gerade als Kessy sich das Schmuckstück schnappen wollte, zerzauste etwas ihr Fell. Dann schaute sie in freche, pechschwarze Augen. Bevor die Elster sich das Armband krallte, pickte sie Kessy noch dreist in die Spürnase und flog mit ihrer Beute davon.

Ungläubig schaute sie dem Vogel nach. Die Runde ging an das blöde Vieh. Was sollte sie denn jetzt tun? Mit gesenktem Kopf wanderte sie weiter durch die Gassen. Immer tiefer manövrierte sie sich in die dunklen Ecken der Stadt. Mitten auf einer Kreuzung blieb sie stehen und schaute sich um. Sie hatte sich verlaufen. Tatsächlich hatte sie sich verlaufen. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie viel zu klein für diese riesige Welt war.

Das grelle Licht und das wütende Gehupe versetzte Kessy einen Schreck. Gerade noch rechtzeitig spurtete sie von der Fahrbahn und versteckte sich hinter einer umgefallenen Mülltonne. Sie würde einfach hier liegen bleiben mit den Pfoten über den Augen. Sie hatte genug gesehen. Ihr kleines pochendes Herz drohte zu zerspringen. Nicht nur aus Angst, sondern auch aus Hoffnungslosigkeit. Sie musste ein Geschenk finden. Ein Leckerli für Juliane.

Ihre trockene Zunge weckte Kessy aus einem unruhigen Schlaf. Ihr Magen knurrte und ihre kleinen Pfoten waren schwer wie Blei. Wie in Trance schleppte sie sich zu einer Pfütze. Das kalte Wasser tat ihren Lebensgeistern gut.

»Nein! Gehen Sie doch weg«, durchbrach eine panische Stimme die Ruhe des hereinbrechenden Morgens.

Kessy drehte sich in die Richtung, aus der sie das Stimmengewirr vermutete. Die junge Frau wurde scheinbar von diesem seltsamen Typ belästigt. Jetzt zog er auch noch an ihrer Handtasche. Tough schlug die zierliche Blondine mit dem Blumenstrauß, den sie auf dem Arm trug, auf den Kerl ein, aber er bleib unbeeindruckt. Kessy mochte solche Männer nicht. Sie musste der Frau helfen. Das war Hunde-Ehrensache. Also fing sie an so laut zu bellen wie sie nur konnte und stürzte mit gefletschten Zähnen auf den Angreifer zu. Dieser ließ verwirrt die Tasche los und trat einen Schritt zurück. Als Kessy nun knurrend an ihm hochsprang und ihre scharfen Wolfszähne in ihrer ganzen Pracht präsentierte, winkte der Kerl ab und ging einfach davon.

Zufrieden mit sich und ihrem Einsatz schaute sie zu der jungen Frau auf. Diese bückte sich sofort und streichelte Kessy das Köpfchen, bevor sie ihre Blumen aufsammelte. Dann kramte sie in ihrer Tasche und zog eine Scheibe Wurst von einem Brötchen, die sie Kessy entgegenstreckte. Ihr Magen machte einen Freudensprung, aber sie brauchte kein Leckerli für sich selbst. Sie brauchte eins für Juliane. Da strömte ihr der Duft einer roten Rose entgegen, die noch auf dem Asphalt lag. Sie ging zu ihr hinüber und zog sie mit der Pfote zu sich. Verwundert sah die Frau sie an, bückte sich erneut und hob die Rose an. Sie entfernte mit flinken Fingern die noch vorhandenen Dornen und hielt sie Kessy entgegen, deren kleines Herz einen Hüpfer machte. Vorsichtig biss sie in den Stängel, wedelte dankbar mit ihrem Schwänzchen und lief davon. Sie hatte ein Geschenk. Ein Leckerli für Juliane und es war wunderschön.

Jetzt musste sie Juliane aber erst finden. Die Sonne stieg immer höher und Kessy wusste nicht einmal, ob sie in die richtige Richtung lief. Erschöpft legte sie sich auf den Marktplatz vor den großen Brunnen und wartete. Worauf wusste sie nicht, aber die Rose ließ allmählich den Kopf hängen. Passanten machten stetig Fotos von ihr und seltsame Laute entsprangen ihren Kehlen, als sie die Hündin mit der Rose entdeckten. Sie legte den Kopf auf den Vorderpfoten ab und dachte an Juliane und Jens. Was hatte sie sich nur gedacht? Sie war nur ein kleiner Mischlingshund und keine Heldin. Warum war sie nicht einfach zu Hause geblieben? Ob Juliane sie bereits vermissen würde? War es ihr überhaupt aufgefallen, dass sie weg war?

Sie wusste nicht, ob Minuten oder gar Stunden vergangen waren. Die Einsamkeit konnte die Zeit ins Endlose dehnen.

»Kessy!!! Kessy, Mädchen!«

Sie hob den Kopf. Diese Stimme war ihr vertrauter als alles andere in ihrem Hundeleben. Das war Juliane. Das war Frauchen. Da stand sie. Direkt neben ... Jens. Tränen sammelten sich in Julianes Augen. Warum weinte sie denn? Kessy sprang auf die wunden Pfoten und lief ihr schnell entgegen. Juliane schüttelte den Kopf, als Kessy sich auf die Hinterbeine stellte und ihr stolz die Rose übergab. Würde Frauchen sich freuen? Juliane nahm die Rose entgegen und fiel dann auf die Knie, um ihre Kessy fest ans Herz zu drücken. Auch Jens bückte sich und streichelte Kessy hinter ihrem rechten Ohr. Genauso, wie sie es mochte. Das konnte nur Jens.

Als Juliane sich die Tränen abgewischt hatte, zog sie ihr Smartphone aus der Handtasche und zeigte Kessy ein Bild.

»Siehst du, Kleine ... Du bist ein Facebook-Star.«

Die süßen Fotos des Hundes mit der roten Rose hatten sich wie ein Lauffeuer im Internet verbreitet. Glücklicherweise auch bis zu Juliane und Jens. Beide waren sich auf dem Weg zum Marktplatz wieder in die Arme gelaufen. Beide hatten nur ein Ziel: ihre Kessy. Sie hatten sie gefunden.
»Darf ich die beiden Damen zu Kaffee und Hundekuchen einladen?«, fragte Jens und strahlte, wie er es früher immer getan hatte, wenn er seine Juliane betrachtete. Juliane schaute ihre Hündin an und deutete das fröhliche Bellen gepaart mit wildem Schwanzwedeln als ein ›ja‹.

»Ich hab dich lieb, Kessy. Entschuldige, ich war blöd. Lust auf Hundekuchen?«

Da war er wieder, der liebevolle Blick in Julianes Augen, den Kessy so vermisst hatte und Hundekuchen mit Frauchen und Herrchen war jetzt genau das Richtige. 


**Einen wunderschönen Sonntag**
Lilly Rabenau
www .lilly-rabenau.de