Die Geldtauschertage
Sunday Tales
Part XII
‚Das Schönste an der Weihnachtszeit sind die strahlenden Kinderaugen.’
Josef hatte selten so gelacht. Wen zur Hölle interessierten in dieser
geschäftigen Zeit schon strahlende Kinderaugen? Da rannten sie. Hin und her und
wieder hin. Behangen mit Tüten schwitzten sie bei Minusgraden. Aufgeregtes
Gemurmel. Gestresste Gesichter. Hochrote Ohren an den neusten Smartphones. Ja, die
Vorweihnachtszeit war eine durchaus besinnliche Zeit.
Worum ging es hier eigentlich? Friede auf Erden und den Menschen ein
Wohlgefallen? Dann hatten die Leute eine seltsame Art dies auszudrücken. Es gab
nur eine Sorge: das Versagen. War das eigene Geschenk groß und teuer genug? Man
wollte sich schließlich an den Geldtauschertagen keine Blöße geben.
Josef fragte sich was dieser Zirkus sollte? Warum behielt nicht jeder
sein eigenes Geld und kaufte sich selbst was ihn scheinbar glücklich machte?
Das wäre die einfachste Lösung und im Grunde wäre das Ergebnis dasselbe. Da
schenken sie ihrer Oma einen Gutschein für eine Gesichtsmaske und Oma gibt
ihnen in einem schönen weihnachtlichen Umschlag das Geld dafür. Seltsam diese
Menschen.
Stress und Hektik als Tribut an einen materiellen Götzen. Warum setzte
sich niemand mehr hin und bastelte etwas? Ist die Zeit, die wir anderen
schenken, nicht viel mehr wert, als dieser ganze Konsum? Wann haben wir
angefangen Menschen zu benutzen und Dinge zu lieben? Und wann haben wir vor
wieder damit aufzuhören?
Josef hatte damit nicht aufgehört.
Das musste er auch nicht, denn er hatte nie damit angefangen. Er hat drei
Kinder und sieben Enkelkinder. Jedes Jahr begann der begabte Tischler schon im
Sommer mit der Anfertigung der Weihnachtsgeschenke. Ganz individuell für jedes
Familienmitglied. Mit tiefer Liebe und völliger Hingabe entstanden hölzerne
Kunstwerke, die auf ihre Art einzigartig waren. Mit den Jahren mussten die
Möbelstücke jedoch immer imposanter werden und die Spielzeuge beweglicher.
Immer mehr. Immer ausgefallener.
Bis sein ältester Sohn aussprach, was alle dachten: „Papa, du musst dir
die ganze Mühe nicht mehr machen. Schenk uns doch einfach Geld.“
Geld. Das kälteste Geschenk das die Menschheit erschaffen hatte. Nichts
schaffte eine größere Distanz. Man muss niemanden kennen, um ihm Geld zu
schenken. Man muss sich keine Gedanken machen, um jemandem Geld zu schenken.
Man muss sich für niemanden interessieren, um ihm Geld zu schenken.
Josef kannte seine Kinder. Er kannte seine Enkel. Er wusste genau, wer
welches Tier mochte. Wer welche Farbe liebte. Seine Familie dagegen wusste rein
gar nichts über ihn. Das störte ihn jedoch nicht, denn er liebte bedingungslos.
In ihren Augen war er wohl nur ein nutzloser alter Mann aus einem
Groschenroman, der Kindern am Kamin eine Geschichte vorlas. Alte Werte. Ja,
wohl ganz nett.
Da saß er nun in dem kleinen Café. Kaum jemand verirrte sich hier her.
Die Menschen waren zu beschäftigt. Außerdem trank man seinen Kaffee bei
Starbucks. Wer trank schon noch einfachen Filterkaffee aus der Kanne? Undenkbar.
Was war nur passiert? Er drehte nachdenklich die kleine hölzerne Lokomotive in
seiner Hand. Ein filigranes Meisterwerk in leuchtendem Rot. Der kleine Michel
liebte diese Farbe und er liebte Lokomotiven. Wie Josef jetzt aber erfahren
hatte nur die aus der Fernsehwerbung. Die gebe es auch zu kaufen. Aus Plastik.
Plastik. Ja, Plastik. Der Rohstoff der modernen Welt.
Josef bedankte sich, wie immer, für den Kaffee und trat hinaus auf die
Straße. Keine zehn Sekunden später hatte man den alten Mann schon zweimal
angerempelt. Die Besinnlichkeit der Vorweihnachtszeit eben. Dafür musste er
Verständnis haben. Auf dem Weg zur Bank war jeder Tritt tonnenschwer. Wie
rechnete man Liebe in Geld um? Was wurde erwartet? Ein dicker Kloß hatte sich
in seinem Hals gebildet. Er hatte verloren. Dieses Jahr tauschte er Geld gegen
ein wenig Geselligkeit mit seiner Familie. Nicht zusammen. Nicht an einem
Tisch. Aber über die Tage verteilt würde er wohl fast jeden von ihnen sehen. Vielleicht.
‚Wie tief sind wir eigentlich runtergekommen’, fragte er sich und hob
andächtig den Blick zum glänzenden Bankgebäude.
Noch einmal drehte er die Lokomotive in seiner Hand, die er wie einen
Schatz behütet hatte, und warf sie in den grauen Mülleimer. Mit einem tiefen Seufzer
setzte er den ersten Fuß auf die Treppe der neuen Gottheit, die seine geliebte
Familie so verehrte. Oben angekommen, drehte er sich noch einmal um. Sein Blick
folgte einem jungen Mädchen. Es ging zielsicher auf den Mülleimer zu und
fischte die Lokomotive heraus. Ihr wacher Blick traf den von Josef.
„Wollen Sie das nicht mehr?“, fragte die zierliche Gestalt mit den vom
kalten Wind zerzausten Haaren.
Fasziniert musterte sie die kleine Lokomotive und ihre Augen begannen hoffnungsvoll
zu strahlen.
Josef kam zurück und sagte: „Nein, ich habe keine Verwendung mehr dafür.
Meine Kinder wollen lieber Geld zu Weihnachten.“
„Verstehe. Dürfte ich sie haben?“
Verblüfft sah Josef sie an und fragte: „Bist du nicht zu alt für sowas?“
„Sie ist für meinen kleinen Bruder.“
„Aber dein kleiner Bruder spielt doch sicherlich lieber mit modernen
Sachen aus dem Kaufhaus, oder?“
Traurig senkte das Mädchen den Kopf und antwortete: „Mein Bruder ist
schwer krank. Dieses Jahr könnte sein letztes Weihnachten sein. Wir werden
Heilig Abend auch hier im Krankenhaus verbringen und schauen alte Filme. Er
liebt ‚Meister Eder und sein Pumuckl’ und die tollen Sachen, die da gebaut
werden. Er ist fasziniert von Holzspielzeug. Daher bin ich mir sicher, dass er
diese Lokomotive lieben wird. Ich hab Sie in dem kleinen Café durch das Fenster
gesehen. Sie hielten diese Lokomotive in der Hand. Ich bin ihnen nachgelaufen,
um zu fragen, wo Sie sie herhaben. Jetzt habe ich fast gehofft, dass Sie sie in
den Müll geworfen haben. Ich musste einfach nachsehen. Es ist das Geschenk für
meinen kleinen Bruder.“
„Sowas könnt ihr auch auf dem Weihnachtsmarkt kaufen“, bemerkte Josef.
„Nein, sowas nicht. Das fühle ich. Haben Sie das gemacht?“
Josef durchfuhr ein Schauer und er musste schlucken.
Dann nickte er und sagte: „Du kannst sie gerne haben. Frohe Weihnachten.
Ich muss jetzt los. Alles Gute für Euch.“
„Danke.“
Strahlende Kinderaugen schoben die kleine Lokomotive behutsam in eine
Umhängetasche.
*
Bewaffnet mit einer
Jackeninnentasche voller Briefumschläge, die zu nah an seinem Herzen waren,
stand ein Mann schweigend auf der Kinderstation. Neben ihm ruhte ein kleines
Ziehwägelchen mit einem Karton. Die Schwester schaute ihn fragend an.
Lächelnd sagte er: „Für den Jungen der den Pumuckl so mag.“
Kommentarlos drehte er sich um und verschwand im Fahrstuhl. Ein warmes
Gefühl breitete sich in ihm aus als er in die eisige Dezemberkälte trat.
„Warten Sie!“, hörte er eine bekannte Stimme.
Da stürzte das Mädchen mit der Lokomotive schon hinter ihm her. Mit
tränennassen Augen fiel sie ihm um den Hals. Meister Eders Werkstatt mit den
passenden Figuren hatte seine Wirkung nicht verfehlt. Josef hatte all seine
Liebe in dieses hölzerne Kunstwerk gesteckt. Er hatte kaum noch geschlafen, um
es rechtzeitig vollenden zu können. Es war sein Meisterwerk. Zweifelsohne.
Melanie, wie das Mädchen hieß, ließ ihn nicht gehen, sondern zog ihn mit
ins Krankenhaus. Strahlende Kinderaugen begrüßten ihn, als er das Zimmer
betrat. Ein kahlköpfiger kleiner Junge streckte ihm die Arme entgegen und Josef
wischte sich eine Träne ab.
„Er ist so glücklich. Wie können wir das je wiedergutmachen?“, fragte die
Mutter des Jungen. „Sowas muss doch ein Vermögen kosten.“
„Es ist unbezahlbar“, gab Josef zu. „Aber genauso unbezahlbar ist das
Strahlen Ihrer Kinder. Ich denke, wir sind quitt.“
*** Ich
wünsche Euch eine besinnliche Vorweihnachtszeit ***
Lilly Rabenau
www.lilly-rabenau.de