Sonntag, 30. Oktober 2016

Ein Leckerli für Juliane


Sunday Tales 
Part I

Ein Leckerli für Juliane


Wie gewöhnlich schaffte Juliane es nicht einmal bis in ihre Wohnung, bevor sie sich die Hälfte ihrer Klamotten schon vom hitzigen Leib gerissen hatte. Ihr neuer Macker Marc klebte an ihren Lippen, als ginge es um sein Leben. Krachend fiel das Foto auf der Kommode zu Boden und die Handtasche wurde in die Ecke katapultiert. Schuhe. Bluse. Alles flog durch die Gegend.

Kessy machte sich erst gar nicht die Mühe ihr Frauchen zu begrüßen. Das wäre eh vergebene Liebesmüh’ gewesen. Was waren das immer für komische Kerle, die Juliane da anschleppte? Die zierliche Mischlingshündin lauschte dem wilden Treiben. Fast gelangweilt starrte sie auf ihren Wassernapf, der nur noch einen kläglichen Rest beinhaltete. Früher war alles anders. Früher wohnte Jens noch hier und Juliane war glücklich. War sie? Kessy war sich nicht mehr sicher. In den letzten paar Wochen hatten sich Juliane und Jens nur angeschrien und keiner der beiden hatte mehr Zeit für die junge Hündin.

Dann war Jens plötzlich nicht mehr durch diese Tür gekommen, aber allerhand seltsame Typen, die Kessy nie etwas mitbrachten. Anders als Jens. Aber meistens brachten sie Juliane etwas mit. Anders als Jens. Blumen, Wein oder Schokolade. Dann brachten sie sie dazu, seltsame Geräusche zu machen. Kessy wollte ihr geliebtes Frauchen am Anfang immer beschützen, aber man warf nur mit Kissen nach ihr und irgendwann war es ihr dann egal.

Juliane schien sich gerne nackt mit diesen Typen im Bett, auf dem Boden und auf dem Küchentisch zu winden. Egal. War es das? Nein, irgendwie nicht. Kessy stand auf und trottete Richtung Wohnzimmer. Ja, es ging wieder heiß her. Das dritte Mal schon diese Woche. Das dritte Mal das Kessy vergebens auf eine Begrüßung und ein Leckerli wartete. Es musste sich etwas ändern. Kampflos wollte sie ihr Frauchen nicht an diese hirn- und herzlosen Typen aufgeben. Aber was sollte sie tun? Ein kleiner Hund wie sie? Was taten diese Kerle denn? Sie brachten Geschenke mit. Meistens. Zumindest am Anfang, aber da sie eh immer schnell ausgetauscht wurden, brachten die Neuen, auch wieder neue Geschenke mit. Geschenke? Ja, Menschen mochten Geschenke. Das waren die Leckerlis für Frauchen.

Kessy würde Juliane eine riesige Freude machen. Sie drehte sich wieder um und lief in den Flur. Traurig schnüffelte sie an dem Bilderrahmen auf dem Boden. Das Glas war gesplittert und ihr Lieblingsbild sah jetzt nicht mehr schön aus. Juliane hatte sie im Arm gehalten und Jens hatte dieses Foto gemacht. Ein Bild aus glücklicheren Zeiten.

Was war das? Die Tür war noch einen Spalt offen. Die beiden hatten es wohl sehr eilig ihr seltsames Spiel zu spielen. Das war jetzt Kessys Chance. Sollte sie es wagen? Wäre sie rechtzeitig zurück? Wo wollte sie eigentlich hin? Ach, egal. Sie musste das Herz ihres Frauchens zurück gewinnen. Sie brauchte ein verdammtes Geschenk. Ein besonderes Leckerli.

Mit klopfendem Herzen voller ungeahntem Mut schlüpfte die kleine Hündin durch den Türspalt und wurde von der Dunkelheit des Hausflures verschluckt. Die fiese Treppe stellte das erste Hindernis dar. Sie dachte an Juliane. Ja, ihre Liebe war es wert, dass sie dieses Monstrum bezwang. Kessy setzte die erste Pfote auf die Stufe und zog ihr Hinterteil nach. Geschafft. Weiter. Immer weiter. Oh je, wie viele Stufen hatte diese scheußliche Treppe denn? Sonst wurde sie von Frauchen getragen.

Kessy schleifte beinahe mit ihrer langen Zunge auf dem kalten Steinboden, als sie endlich das Erdgeschoss erreicht hatte. Die Eingangstür. Verhöhnend schien das massive Ding die kleine Hündin anzugrinsen. Sie würde diese verdammte Tür jetzt so lange anstarren, bis sie sich von selbst öffnen würde. Ihre Augen waren zu kleinen Schlitzen verengt. Das musste doch einschüchternd wirken, oder? Hilfsweise knurrte sie noch und fletschte die Zähne. Nichts. Bellen? Nein, lieber nicht. Sie würde nur Juliane auf sich aufmerksam machen. Noch böser gucken und knurren. Ja, das musste einfach funktionieren.

Gerade als sie aufgeben und wieder nach oben krabbeln wollte, geschah das Wunder. Die Tür gab ihren Widerstand auf. Kessy achtete nicht darauf, wer die Tür geöffnet hatte, sondern sprintete wie von einer Tarantel gestochen aus dem Wohnhaus.

Da war sie: die große weite Welt voller Geschenke. Sie rannte weiter. Über die Straße in Richtung Park. In der Dunkelheit kam ihr alles seltsam fremd vor. Hechelnd blieb sie stehen. So weit. So gut. Und jetzt? Als sie sich umschaute, schien ihr aufgeflammter Mut sich verflüchtigt zu haben. Ihre Beine fühlten sich wie Wackelpudding an. Der Schrei einer Eule ließ sie zusammenzucken. Sie musste weiter. Im Park gab es keine Geschenke, oder? Eher nicht. Frauchen mochte Blumen, Pralinen und Schmuck. Ein Gänseblümchen aus dem Park war wohl keine gute Lösung.

Sie lief und lief, bis ihre Pfoten brannten. Häuser, Autos, Mülltonnen. Grausig fauchende Katzen kreuzten ihren Weg, aber davon ließ sie sich nicht beirren. Müll, Flaschen, Kaugummi, Armband. Moment. Armband? Kessy drehte sich um und lief zu dem Ding hin, das im Licht einer Straßenlaterne funkelte. Unter einem seltsamen Automat, der uralt aussah, lag tatsächlich ein Armband und es glitzerte. Juliane mochte alles, was glitzerte. Gerade als Kessy sich das Schmuckstück schnappen wollte, zerzauste etwas ihr Fell. Dann schaute sie in freche, pechschwarze Augen. Bevor die Elster sich das Armband krallte, pickte sie Kessy noch dreist in die Spürnase und flog mit ihrer Beute davon.

Ungläubig schaute sie dem Vogel nach. Die Runde ging an das blöde Vieh. Was sollte sie denn jetzt tun? Mit gesenktem Kopf wanderte sie weiter durch die Gassen. Immer tiefer manövrierte sie sich in die dunklen Ecken der Stadt. Mitten auf einer Kreuzung blieb sie stehen und schaute sich um. Sie hatte sich verlaufen. Tatsächlich hatte sie sich verlaufen. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie viel zu klein für diese riesige Welt war.

Das grelle Licht und das wütende Gehupe versetzte Kessy einen Schreck. Gerade noch rechtzeitig spurtete sie von der Fahrbahn und versteckte sich hinter einer umgefallenen Mülltonne. Sie würde einfach hier liegen bleiben mit den Pfoten über den Augen. Sie hatte genug gesehen. Ihr kleines pochendes Herz drohte zu zerspringen. Nicht nur aus Angst, sondern auch aus Hoffnungslosigkeit. Sie musste ein Geschenk finden. Ein Leckerli für Juliane.

Ihre trockene Zunge weckte Kessy aus einem unruhigen Schlaf. Ihr Magen knurrte und ihre kleinen Pfoten waren schwer wie Blei. Wie in Trance schleppte sie sich zu einer Pfütze. Das kalte Wasser tat ihren Lebensgeistern gut.

»Nein! Gehen Sie doch weg«, durchbrach eine panische Stimme die Ruhe des hereinbrechenden Morgens.

Kessy drehte sich in die Richtung, aus der sie das Stimmengewirr vermutete. Die junge Frau wurde scheinbar von diesem seltsamen Typ belästigt. Jetzt zog er auch noch an ihrer Handtasche. Tough schlug die zierliche Blondine mit dem Blumenstrauß, den sie auf dem Arm trug, auf den Kerl ein, aber er bleib unbeeindruckt. Kessy mochte solche Männer nicht. Sie musste der Frau helfen. Das war Hunde-Ehrensache. Also fing sie an so laut zu bellen wie sie nur konnte und stürzte mit gefletschten Zähnen auf den Angreifer zu. Dieser ließ verwirrt die Tasche los und trat einen Schritt zurück. Als Kessy nun knurrend an ihm hochsprang und ihre scharfen Wolfszähne in ihrer ganzen Pracht präsentierte, winkte der Kerl ab und ging einfach davon.

Zufrieden mit sich und ihrem Einsatz schaute sie zu der jungen Frau auf. Diese bückte sich sofort und streichelte Kessy das Köpfchen, bevor sie ihre Blumen aufsammelte. Dann kramte sie in ihrer Tasche und zog eine Scheibe Wurst von einem Brötchen, die sie Kessy entgegenstreckte. Ihr Magen machte einen Freudensprung, aber sie brauchte kein Leckerli für sich selbst. Sie brauchte eins für Juliane. Da strömte ihr der Duft einer roten Rose entgegen, die noch auf dem Asphalt lag. Sie ging zu ihr hinüber und zog sie mit der Pfote zu sich. Verwundert sah die Frau sie an, bückte sich erneut und hob die Rose an. Sie entfernte mit flinken Fingern die noch vorhandenen Dornen und hielt sie Kessy entgegen, deren kleines Herz einen Hüpfer machte. Vorsichtig biss sie in den Stängel, wedelte dankbar mit ihrem Schwänzchen und lief davon. Sie hatte ein Geschenk. Ein Leckerli für Juliane und es war wunderschön.

Jetzt musste sie Juliane aber erst finden. Die Sonne stieg immer höher und Kessy wusste nicht einmal, ob sie in die richtige Richtung lief. Erschöpft legte sie sich auf den Marktplatz vor den großen Brunnen und wartete. Worauf wusste sie nicht, aber die Rose ließ allmählich den Kopf hängen. Passanten machten stetig Fotos von ihr und seltsame Laute entsprangen ihren Kehlen, als sie die Hündin mit der Rose entdeckten. Sie legte den Kopf auf den Vorderpfoten ab und dachte an Juliane und Jens. Was hatte sie sich nur gedacht? Sie war nur ein kleiner Mischlingshund und keine Heldin. Warum war sie nicht einfach zu Hause geblieben? Ob Juliane sie bereits vermissen würde? War es ihr überhaupt aufgefallen, dass sie weg war?

Sie wusste nicht, ob Minuten oder gar Stunden vergangen waren. Die Einsamkeit konnte die Zeit ins Endlose dehnen.

»Kessy!!! Kessy, Mädchen!«

Sie hob den Kopf. Diese Stimme war ihr vertrauter als alles andere in ihrem Hundeleben. Das war Juliane. Das war Frauchen. Da stand sie. Direkt neben ... Jens. Tränen sammelten sich in Julianes Augen. Warum weinte sie denn? Kessy sprang auf die wunden Pfoten und lief ihr schnell entgegen. Juliane schüttelte den Kopf, als Kessy sich auf die Hinterbeine stellte und ihr stolz die Rose übergab. Würde Frauchen sich freuen? Juliane nahm die Rose entgegen und fiel dann auf die Knie, um ihre Kessy fest ans Herz zu drücken. Auch Jens bückte sich und streichelte Kessy hinter ihrem rechten Ohr. Genauso, wie sie es mochte. Das konnte nur Jens.

Als Juliane sich die Tränen abgewischt hatte, zog sie ihr Smartphone aus der Handtasche und zeigte Kessy ein Bild.

»Siehst du, Kleine ... Du bist ein Facebook-Star.«

Die süßen Fotos des Hundes mit der roten Rose hatten sich wie ein Lauffeuer im Internet verbreitet. Glücklicherweise auch bis zu Juliane und Jens. Beide waren sich auf dem Weg zum Marktplatz wieder in die Arme gelaufen. Beide hatten nur ein Ziel: ihre Kessy. Sie hatten sie gefunden.
»Darf ich die beiden Damen zu Kaffee und Hundekuchen einladen?«, fragte Jens und strahlte, wie er es früher immer getan hatte, wenn er seine Juliane betrachtete. Juliane schaute ihre Hündin an und deutete das fröhliche Bellen gepaart mit wildem Schwanzwedeln als ein ›ja‹.

»Ich hab dich lieb, Kessy. Entschuldige, ich war blöd. Lust auf Hundekuchen?«

Da war er wieder, der liebevolle Blick in Julianes Augen, den Kessy so vermisst hatte und Hundekuchen mit Frauchen und Herrchen war jetzt genau das Richtige. 


**Einen wunderschönen Sonntag**
Lilly Rabenau
www .lilly-rabenau.de

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen